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Ulms Neue Mitte

Dämmerung über der Neuen Straße

Modernste Architektur in historischer Umgebung – und Bürgerinnen und Bürger, die stolz darauf sind: Das ist Ulms Neue Mitte. Ihr Zentrum ist der Hans-und-Sophie-Scholl-Platz. Um ihn reihen sich im Süden das Rathaus, im Westen die gewaltig vorkragenden „Rathausarkaden“ des Architekten Stephan Braunfels, im Norden das Doppelgiebelhaus der Museumsgesellschaft mit seiner weinroten Lamellenfassade von Herbert Schaudt und im Osten die von Wolfram Wöhr entworfene Kunsthalle der Sammlung Weishaupt. Sie wurde als letzter Bau der Neuen Mitte Ende November 2007 eröffnet.

Die Ecke eines spitz zulaufenden Baus ragt in den Himmel, gegenüberliegend ragt der Turms des Münsters in den Himmel.

© Stadtarchiv Ulm

Ecke des Gebäudes "Münstertor" und der Haupttor des Ulmer Münsters

Zieht man den Kreis um dieses Zentrum ein paar Meter weiter, setzt im Osten der gläserne „Museumssteg“ einen ungewöhnlichen Rahmen ins Stadtbild. Er verbindet die Kunsthalle mit dem südlich davon gelegenen Ulmer Museum. Und im Westen durchschneidet die scharfe Kante des „Münstertors“, ebenfalls ein Braunfels-Bau, das Blickfeld. An diesen Kreis grenzen im Süden die Glaspyramide der Stadtbibliothek von Gottfried Böhm und im Westen das Stadthaus von Richard Meyer.

Das Gebäude des Münstertors mit spitzer Kante und Dachcafé bei Nacht, auf der Straße davor sind schemenhaft Menschen zu erkennen.

© Stadtarchiv Ulm

Das herausragende Gebäude "Münstertor" des Architekten Stephan Braunfels

Die Aufzählung der Namen, die mit Ulms Neuer Mitte verbunden sind, liest sich wie ein Who-is-who der Architektur – was durchaus der Tradition des Ortes entspricht: Schließlich haben an der Gestaltung des Ulmer Rathauses, das zu den schönsten Deutschlands zählt, so großartige Künstler mitgewirkt wie der Maler Martin Schaffner (um 1478 bis nach 1546) und Hans Multscher (um 1400 bis 1467). Und Erbauer wie Ausgestalter des Ulmer Münsters, das an die Neue Mitte grenzt, gehörten ebenfalls zu den Spitzenkräften ihrer Zeit, die ihre Spuren in zahlreichen Kulturzentren Europas hinterlassen haben: die Parler, Ensinger, Syrlin …

Ulms Neue Mitte, die im deutschen Blätterwald mit Bestnoten bedacht wird, ist nicht nur eine Pilgerstätte für Freunde der Baukunst geworden. Auch die Ulmer, die Neuem ein gerüttelt Maß an Skepsis entgegenzubringen pflegen, führen ihre Gäste stolz durch die Neue Mitte – und zwar auf mehreren Ebenen: Zu einem solchen Besuch gehört nicht nur ein Abstecher in die Höhen des Cafés Bellavista auf dem Münstertor, sondern ebenso zwingend ein Vorstoß in die Tiefgarage, welche sich über 270 Meter hinweg auf zwei Etagen unter der Neuen Mitte hindurchzieht.

Parkhaus am Rathaus

Diese Tiefgarage gilt als die schönste der Republik; manche behaupten, es sei die schönste der Welt, was insofern zutreffen mag, als derartige Auto-Aufbewahrungsstätten meist nach den Gesichtspunkten der Rentabilität und nicht der Ästhetik und des Sicherheitsbedürfnisses gebaut werden. Anders in Ulm: Hier wurde eines der drei geplanten Parkdecks geopfert, um die beiden anderen höher, lichter und leichter zugänglich zu machen. Ein breiter roter Gang führt schnurgerade durch die 2,80 Meter hohe Säulenallee, zu deren beiden Seiten die Fahrzeuge in je zwei Reihen stehen. Die beiden Außenwände bestehen aus den Bohrpfählen, die zum Bau der Garage in den Boden getrieben wurden. Man hat sie sichtbar gelassen und mit künstlerischen Bild-Elementen verziert, welche die Parkdecks zu einer ungewöhnlichen Galerie werden lassen.

Der Clou der Tiefgarage aber ist das stauferzeitliche Gemäuer im Treppenhaus – Zeuge der „Neuen Mitte“ des 12. Jahrhunderts, die ebenfalls an dieser Stelle lag. Das haben die Ausgrabungen bestätigt, die dem Bau dieser Tiefgarage vorausgegangen sind. Von November 2001 an haben die Archäologen in der mutmaßlich größten Grabung der Republik vier Jahre lang eine Fläche von 13. 000 Quadratmeter untersucht und sind dabei in Ulms Ursprungszeiten vorgestoßen, als an dieser Stelle noch eine von Grubenhäusern geprägte vorstädtische Siedlung stand, die wohl schon Ende des 10. Jahrhunderts durch einen Graben geschützt war.

Parkhaus am Rathaus

Als die Staufer im 12. Jahrhundert die Stadt erweiterten, bezogen sie die Fläche der heutigen Neuen Mitte in den Schutz der Mauern ein: Es war von da an die Mitte der Stadt, bis die im 14. Jahrhundert abermals erweitert wurde. Die staufische Stadtmitte um den schon länger existierenden Marktplatz war geprägt von repräsentativen Stein- und Turmhäusern, deren imposante Grundmauern bei den Grabungen aufgedeckt – und entfernt wurden. Das besonders sorgsam gefügte Mauerwerk eines jener Häuser wurde dann in die Tiefgarage integriert, wenn auch nicht an exakt derselben Stelle.

Es ist das größte Exponat einer kleinen Ausstellung, welche die Vergangenheit der Neuen Mitte von den Anfängen bis zur Zerstörung Ulms am 17. Dezember 1944 anhand von Grabungsfunden erzählt. Die anrührendsten darunter sind Alltagsgegenstände, die im Feuersturm jener Bombennacht dahingeschmolzen sind: Teile einer Spielzeugeisenbahn, Teller und zusammengebackenes Besteck, Schmuck oder ein bizarr verformter Bierständer samt Flaschen. Das waren die ersten Stücke, welche die Archäologen in den mit Ruinenschutt verfüllten Kellerräumen fanden, nachdem sie die Straßenoberfläche der Neuen Straße aufgebrochen hatten, die seit der Nachkriegszeit die Ulmer Altstadt in zwei Teile geteilt hatte.

Hochformatige Luftaunfnahme, durch die sich von oben bis unten eine breite Straße zieht. Links und rechts davon sind Dächer der Ulmer Innenstadt zu sehen.

© Stadtarchiv Ulm

Die Neue Straße zog eine trennende Schneise durch die Ulmer Altstadt.

Die Neue Straße hatte die entsprechende Fläche beherrscht, bevor die Neue Mitte dort geschaffen wurde. Der Bau dieser Hauptverkehrsader quer durch die Ulmer Innenstadt war möglich geworden durch das alliierte Bombardement, das die Innenstadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Freilich war schon vor dem Krieg über eine leistungsfähige West-Ost-Achse nachgedacht worden, doch geschehen war bis Kriegsende nichts. Danach verhängte der Ulmer Gemeinderat im Juli 1946 eine Bausperre, um sich die verschiedenen Optionen für eine breite Straße nicht verbauen zu lassen, die dem Auto freie Bahn garantieren sollte. Einer dieser Pläne wollte jene Verkehrsader unmittelbar südlich am Münster vorbeiführen, wozu der Abbruch der Valentinskapelle vorgesehen war. Doch das blieb den Ulmern erspart. Stattdessen wichen die Ruinen der Häuserensembles zwischen der Lange Straße im Norden und der Linie Sattlergasse/ Taubengasse im Süden einer Stadtautobahn, die nun auch den über tausend Jahre alten Marktplatz zudeckte.

Der historische Ulmer Marktplatz (1) hatte den östlichen Teil des heutigen Hans-und-Sophie-Scholl-Platzes eingenommen und sich nach Süden fortgesetzt, wo er sich ausweitete zum Fischmarkt im Westen und dem heute noch so genannten Marktplatz im Osten. An den langgezogenen Marktplatz grenzte im Norden die Obere Stube (2), das einstige Gesellschaftshaus des Ulmer Patriziats. Seit dem 19. Jahrhundert gehört es der Museumsgesellschaft, Ulms ältestem Verein, die das im Krieg zerstörte Gebäude nach dem Krieg wieder errichten und im Zuge der Gestaltung von Ulms Neuer Mitte von Grund auf umbauen ließ. Weiter südlich säumten den Marktplatz im Osten das Rathaus (3) und im Westen die Untere Stube (4). Das war das Domizil der Kramer und Kaufleute, der beiden vornehmsten Ulmer Zünfte, die dem Patriziat am nächsten standen.

Obere Stube, Untere Stube, Rathaus: Hier, um den Markplatz, befand sich also der gesellschaftliche Mittelpunkt der Stadt – und der wirtschaftliche. Denn das Rathaus war ursprünglich ein Gewandhaus gewesen, dann ein Kaufhaus, und noch im 19. Jahrhundert hielten hier die Sattler und Metzger ihre Waren feil. Keinen Steinwurf davon entfernt, etwa dort, wo heute die Sparkasse in den „Rathausarkaden“ wirtschaftet, war das Zentrum des Ulmer Warenhandels, die Gräth (5). Das war ein gewaltiger Gebäudekomplex mit einem Innenhof, in den die Wagen einrollten mit den Gütern, die hier gewogen und verzollt wurden, bevor sie weitertransportiert oder an die Einzelhändler abgegeben werden durften.

Dieser Gebäudekomplex brannte 1853 ab. Die Ulmer ließen den Platz frei, errichteten an seiner Westseite die Hauptwache und stellten 1899 in die Mitte des neuen Platzes einen gusseisernen Musikpavillon_wilhelminisch (0,12 MB, jpg), in dem sonntags die Militärkapellen aufspielten. Der Musikpavillon auf dem Hauptwachplatz wurde zum beliebten Treffpunkt der Ulmer Jugend, von dem aus man auf den „Bummel“ ging.

Schwarzweiß-Foto der neuen Straße, in deren Mitte sich eine Parkfläche erstreckt, auf dem Autos abgestellt sind. Daneben führen in beiden Fahrtrichtungen jeweils zwei Fahrtspuren entlang.

© Stadtarchiv Ulm

Die Neue Straße im Jahr 1971 – Musterbeispiel einer autogerechten Innenstadt

Der Pavillon hat zwar den Krieg unbeschadet überstanden, nicht aber den Zeitgeist der frühen 1950er-Jahre, der modern sein wollte – und dem Auto freie Fahrt einräumte. Die war garantiert auf der Neuen Straße, deren erstes Teilstück zwischen Postgasse und Donaustraße 1954 dem Verkehr übergeben wurde. Doch als die Neue Straße ein Vierteljahrhundert später vollendet war, hatte sich die Auto-Euphorie in ihr Gegenteil gewandelt. Denn der Verkehr hatte derart zugenommen, dass er den Leuten zur Last fiel. Und die Neue Straße war so stark befahren, dass die Trennung der Altstadt nun schmerzlich fühlbar wurde.

Schon seit Mitte der 1970er-Jahre war über einen Tunnel diskutiert worden, der allerdings an der Finanzierbarkeit scheiterte. Im Rahmen des Stadtqualitätsprogrammes erschienen Tunnel und Tiefgarage in den 80er-Jahren erneut auf der kommunalpolitischen Tagesordnung, und der Gemeinderat beschloss beides im Juli 1990. Nun allerdings stieß dieses Vorhaben auf Widerstand aus der Bürgerschaft. Die Gegner sahen in Tunnel und Tiefgarage kein Mittel zur Verkehrsberuhigung mehr, sondern – im Gegenteil – einen Magneten für noch mehr Verkehr. Außerdem war ungeklärt, was denn mit den frei gewordenen Verkehrsflächen auf dem Deckel des Tunnels geschehen solle. Es kam zu einem Bürgerentscheid, der das Projekt verhinderte. Die Neue Straße wurde dadurch allerdings auch nicht schöner.

Im Abendhimmel leuchtet Licht aus zwei Gebäuden, die beide eine große Fläche Glasfenster besitzen. Zwischen beiden Bauten führt die Neue Straße hindurch.

© Stadtarchiv Ulm

Das Münstertor (rechts) und die Rathausarkaden (links)

Die Neue Straße wurde immer stärker als Schandfleck empfunden, den eine Bebauung tilgen sollte. Darüber, wie die aussehen sollte, wurde von 1993 an mit starker bürgerschaftlicher Beteiligung in Werkstattforen und Ideenbörsen diskutiert. Da es diesmal es in erster Linie um die Rückgewinnung von Stadtraum ging, der sich die Verkehrsfrage unterordnete, konnte auch der wiedererwachte Wunsch nach einer Tiefgarage in die Suche nach einer städtebaulichen Lösung eingebunden werden. Die sollte ein Wettbewerb bringen. Der Vorschlag der ersten Preisträger, des Ulmer Architekten-Teams Christian Guther, Bernhard Lutz und Martin Schenk, diente den weiteren Planungen als Grundlage.

Nachtaufnahme der Neuen Straße, an deren einen Seite das moderne Sparkassengebäude steht, auf der anderen das Rathaus mit historischer Fassade. Vor der Sparkasse begindet sich der Eingang zur Tiefgarage.

© Stadtarchiv Ulm

In einem Gutachterverfahren, das die Investoren Inhofer Wohnbau und Realgrund AG ausgelobt hatten, wurde die Gestaltung der westlich des Rathauses gelegenen Gebäude „Münstertor“ und „Rathausarkaden“ dem Architekten Stephan Braunfels übertragen, der auch das Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags in Berlin und die Münchner Pinakothek der Moderne entworfen hat. Und mit dem Bau der Kunsthalle des Schwendier Unternehmers und Kunstsammlers Siegfried Weishaupt auf dem östlichen Teil des Deckels wurde Wolfram Wöhr beauftragt, ein Schüler des Stadthaus-Architekten Richard Meier.

Ein weitläufiger Platz, an dessen Ende ein Gebäude - bestehend aus mehreren Quadern mit hohen Glasfenster - steht. Im Hintergrund erhebt sich der Hauptturm des Ulmer Münsters.

© Stadtarchiv Ulm

Blick über den Hans-und-Sophie-Scholl-Platz zur neuen Sparkasse

Der Platz unmittelbar nördlich des Rathauses, der eigentlich – wie vor dem Krieg – hätte wiederbebaut werden sollen, musste jedoch frei bleiben. Er erhielt am 21. Juli 2006 den Namen „Hans-und-Sophie-Scholl-Platz“ im Gedenken an die beiden jungen Ulmer, die wegen ihres Widerstandes gegen das Hitler-Regime am 22. Februar 1943 hingerichtet worden sind. Von ihnen führt ein direkter Weg zur Neuen Mitte: Ihr Opfer bewirkte, dass ihre Schwester Inge Scholl zusammen mit ihrem Mann Otl Aicher nach dem Krieg die Hochschule für Gestaltung aufbauen konnte, der ursprünglich die Idee des Heranziehens einer demokratischen Elite zugrunde lag. Es wurde dann eine Designerschule daraus, die Ulm nicht nur weltweit bekannt machte, sondern auch den Ulmer Stil maßgeblich prägte. Und ohne den wäre Ulms Neue Mitte kaum denkbar.

Text: Henning Petershagen